Dienstag, 24. April 2012

Ein etwas anderer Lebenslauf


Rosalia Janet Ordonez Saucedo 28.12.1973
Meine liebe um mich besorgte Gastmutter. Meine gute Freundin.
Ich  habe sie in diesem halben Jahr auf eine sehr enge Art kennen gelernt. Sie ist eine eher schüchterne Person,  sehr umsichtig und nachdenklich. Sie wirkt vielleicht im ersten Moment
etwas zurückgezogen, ist aber eine sehr herzliche Person. Eine kleine Perfektionistin.
Jedoch vor allem, was sehr selten an zu finden ist, hat sie eine besondere Beobachtungsgabe. Sie hat diesen sogenannten siebten Sinn, weshalb ich auch so gut mit ihr klarkomme. Es braucht nicht
immer viele Worte (vielleicht auch bei Sprachunfähigkeit) um sich zu verstehen, so war sie auch eine der ersten Personen die mich zu Beginn verstanden hat.
Rosalia wohnt mit ihrem Mann, Jesus (50 Jahre) und ihren zwei Töchtern in San Juan de Lurigancho, Lima, Peru. Tagsüber kümmert sie sich in ihrem bescheidenen Heim um alles,  was so anfällt und ihre beiden kleinen Töchter. Marjorie (8 Jahre) und Cielo (5Jahre).
Mit viel Liebe, Zärtlichkeit, Strenge, Rythmus und Struktur erzieht sie ihre Kinder. Die Zeit als ganze Familie wird großgeschrieben. Ich erlebe meine Familie als sehr fröhlich, es wird sehr viel gelacht und Eltern die versuchen ihren Kindern das bestmögliche zu geben. Mit der Zeit habe ich auch viele andere Familien kennen gelernt und ich glaube  nun beurteilen zu können, dass es so eine gute Erziehung wie diese hier leider selten gibt.
So habe habe ich sie erlebt, doch welche Person steckt wirklich hinter meinen Wahrnehmungen?
Nach einem vierstündigen Gespräch weiß ich nun mehr.
Im Dezember kam Rosalia in Chiclayo in der Provinz Saltur im Dorf Lamballece zur Welt.
Chiclayo ist heute wie Lima Staubwüste mit Meerblick. Damals war es viel grüner, es wurde Zucker angebaut. Sie ist die Jüngste von 9 Kindern und wuchs mit ihren zwei Brüdern und zwei Cousins auf. Was erinnerst du von deiner Kindheit? Freiheit. Sicherheit. Spielen in der Straße,
Fangen.
Ihr Vater eine sehr strenge Person, autoritär, ordentlich, kalt. Von ihm könnte sie den Perfektionismus und die Strenge haben. Er war Busfahrer, ein unabhängiges Gewerbe, er arbeitete von 6-17 Uhr.
Das Dorf hat so einen Respekt, ja sogar Angst vor ihm. Genauso seine Kinder. Fragen war verboten.
Es gab für sie einen klaren Rythmus, neun Uhr war Bettzeit, kein Fernsehen.
Die Mutter hatte die Vermittlerposition, die Ansprechpartnerin. An sie wandten sich die Kinder um Fragen zu stellen und eine zärtliche Zuhörerin zu haben. Jeden Tag mussten die Kinder ihre Pflichten erfüllen. Die Tiere versorgen oder auch mal bei der Ernte helfen. Komischerweise,erinnert Rosalia sich sehr positiv an die Arbeit mit ihrer Oma. Schon mit neun Jahren ging sie alleine durch die Straßen, um Lebensmittel zu verkaufen, um ihrer Oma beim Verkauf zu helfen.
Es war Pflicht sich durch ein Buch selbst zu bilden. Als dann der Vater nach Hause kam, wurde abgefragt. Lernen unter Druck, unter Angst. Nicht selten rutschte die Hand aus, wenn die Kinder
nicht auf die Fragen antworten konnten, da sie zu viel Arbeit hatten, um zu lernen.Mit 17 Jahren beendete sie die Schule und begann in Familien zu arbeiten, Kinder betreuen, putzen,kochen etc.. Als es dann bald keine Arbeit mehr in Chiclayo gab , wurde sie mit knapp 18 nach Lima geschickt, um dort in fremden Familien zu arbeiten und zu wohnen. Obwohl sie einige Geschwister in Lima hatte, fühlte sie sich alleine und hatte oft Heimweh nach ihrer Mutter und ihrem Zuhause. Ich selbst habe erlebt, wie das Hauspersonal hier lebt und oft behandelt wird.
Was erinnerst du von deinen Arbeitgebern, wie war die Zeit ? Schlechter Umgang,Undankbarkeit,abschätzig, dabei vertrauen sie doch ihre Kinder den jeweiligen Personen an.
Das verdiente Geld schickte sie an ihre Mutter, das was sie nicht selbst brauchte.
Wolltest du was anderes machen? " Klar, Studieren, Englisch lernen, aber das war für meine Eltern
finanziell nicht möglich". Es ist jedoch etwas ganz normales. Sie hat schon immer ihren Eltern
geholfen, immer das Leid der Eltern mitbekommen, was vielleicht auch zu ihrer Willensstärke
beigetragen hat. Doch jetzt sagt sie mir immer: "Luisa, mit der Zeit wird man älter,weiser. Jedes Erlebnis, jede Tatsache hat einen Sinn, den man irgendwann erkennen wird."
Mit 23 begann sie in sogenannten Tiendas zu arbeiten. Tiendas sind kleine Läden, in denen man je nach Spezialität vieles kaufen kann. Lebensmittel, aber auch Kleidung etc.. Sie arbeitete in
verschiedenen Tiendas. Mit 23 lernte sie dann dort ihren Mann kennen, der Tiendainhaber, für den sie arbeitete. Sie lernten sich kennen und bald zogen sie auch schon zusammen, jedoch noch unverheiratet (untypisch). Durch die viele Arbeit, durch ihren Lebensverlauf hat sie einen bestimmten Willen entwickelt, etwas zu verändern, nach mehr zu streben. So gab sie auch schnell in ihrer Beziehung den Ton an. Sie regelte das Finanzielle, Ein- und Ausgaben, sodass sie ein strukturiertes Leben führen konnten. Sie schaffte eine Küche an, um nicht immer in der Straße zu essen. Das hört sich jetzt vielleicht seltsam an, jedoch ist es meist billiger in den zahlreichen Restaurants in der Straße zu essen, als selber zu kochen. Die meisten Peruaner tun das, da Essen so einen wichtigen Stellenwert hat, doch sie wollte ein ordentliches Heim aufbauen. Die beiden machten sich selbstständig. Bis heute haben sie eine Tienda im Polvo Azules. Polvo Azules ist ein riesiger Markt im Zentrum von Lima, wo man fast alles kaufen kann von Kleidung bis hin zu Koffern. Circa ein Mal im Monat steht mein Haus hier Kopf und es stapeln sich Berge von Jeanshosen. Nach ungefähr zwei Tagen, haben sie dann auf jede einzelne Hose wahlweise ein Dolce und Gabana Zeichen oder Armani Schild genäht. Mein Gastvater arbeitet noch anderswo,doch ist mir immer noch nicht klar, was genau er noch macht. Hier ist das oft nicht so klar definiert.
Wie ich schon sagte, die Peruaner sind Überlebenskünstler, ich verstehe oft nicht, wie und wodurch sie überleben.
Als Rosalia 30 war, kam Marjorie dann zur Welt. Von da an, langsam, entwickelte sich ihr Leben, was ich nun kenne. Meine Gast-Mutter hat einen Faible für Gesundheit entwickelt. Sie liebt es biologische Produkte einzukaufen, vegetarisch zu kochen (total gegen den peruanischen Lebensstil) oder mir zu sagen, dass man Früchte am Morgen essen sollte und nicht am Abend. Sie ist eine kleine Perfektionistin,die alles ordentlichen und strukturiert haben muss. Doch sie hat sich geändert, sagt sie. Durch die Waldorfpädagogik, hat sich für sie eine neue Sicht auf die Welt bekommen. Sie nimmt diese Pädagogik sehr sehr ernst und schickt nicht nur ihre Kinder auf jeweilige Colegios. Nein, sie nimmt diese Pädagogik auch mit nach Hause. Für viele Menschen hier ist die Bedeutung von Waldorf eine sehr große. Es erscheint den Menschen als die beste Alternative. Man muss sich das so vorstellen, denke ich, dass wir in Deutschland so einem Medieneinfluss ausgesetzt sind, der jeden Tag irgendetwas neues und diesmal das Ultimative ankündigt. Hier jedoch gibt es diesen Einfluss so gut wie nicht. Klar gibt es Unis, die in der Weltrangliste mithalten können, aber diese sind unbezahlbar und über diese Bevölkerungsschicht rede ich auch nicht. Sagen wir mal, es gibt einfach wenig Alternativen, wenig Auswahl, Varieetät. Sodass diese Pädagogik eher ein Anstoß ist, eine Anregung, wie man seine Kinder erziehen kann. Und seid ihr auch rausgegangen, wie habt ihr gelebt? Klar, wir waren draußen, trinken, tanzen mit Freunden. Das brachte mich gleich zur nächsten Frage, meinem Lieblingsthema: Freundschaft. (Das muss ich vielleicht erklären. Mit der Zeit, habe ich die leise, aber starke Vermutung, dass Freundschaften hier anders definiert werden. Eher lockerer, man ist eher mit seiner Familie als Freunden zusammen.) Wie auch immer, hat meine Gastmutter noch eine Freundin aus der Schulzeit, mit der sie aber keinen Kontakt hat und auch ewig nicht mehr gesehen hat. Ihre alte Chefin ist ihre beste Freundin, die ich auch schon kennengelernt einmal habe. Mit ihr hat sie ab und an Kontakt. Jedoch, für mich, wirkt das alles sehr oberflächlich und nicht zu vergleichen mit Freundschaften, die ich aus Deutschland kenne. Und just in diesem Moment, erzählt sie mir, dass ihre Mutter sie immer vor Freundschaften gewarnt hat. Pass auf mit Freunden, auf die ist kein Verlass. Sie sagt, vielleicht sei das in Deutschland anders, hier in Peru würde viel hinterm Rücken ablaufen. Ich kann das nicht wirklich verstehen, denn auch wenn hier die Familie eine große Rolle spielt und immer hilfsbereit ist,erscheinen mir auch diese Beziehungen eher oberflächlich. Meine Gastmutti ist irgendwie typisch peruanisch, aber auch gleichzeitig untypisch. Sie kocht gerne vegetarisch, die traditionelle Küche ist ihr teilweise suspekt, trotzdem kocht sie immer Reis. Ich finde, sie schwimmt gegen den Strom. Sie ist der Meinung, dass Peru sich mehr auf die eigenen Qualitäten konzentrieren sollte, als ständig den neuesten U.S.- amerikanischen Trends nach zu jagen. Sie möchte gerne Quechua lernen,da es die Ursprache Perus ist und immer früher mit dem Spanischunterricht begonnen wird und so diese Sprache vom Aussterben bedroht ist. Ihr gefällt die Natur, die Freiheit, der Platz, Lima ist ihr eher zuwider. Die meisten Peruaner stehen auf Lima. Das und vieles mehr macht diese Person zu einer anderen Peruanerin. Sie hat gelernt, dass nichts perfekt ist. Rosalia ist eine tolle und liebenswerte Person und Mutter, die es vielleicht manchmalnicht schafft, ihre Gefühle in Worte zu fassen.

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